Vortrag
Mittwoch, 6.6.2018, 19h

Axel Honneth

Professor of the Humanities, Columbia University, New York; Direktor, Institut für Sozialforschung, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Wirtschaft oder Gesellschaft? Größe und Grenzen der Marxschen Kapitalismusanalyse

Gesprächsleitung: Prof. Dr. Eva Geulen, Berlin

Wo liegen die Stärken und Schwächen von Marx’ Verständnis der bürgerlich-kapitalistischen Welt? Zur Beantwortung dieser Frage sollen drei Stationen in der Entwicklung seiner Interpretation des Kapitalismus näher untersucht werden. Den Anfang macht Marx’ Aufsatz „Zur Judenfrage“, in dem Marx sich noch von der Hegelschen Unterscheidung von „bürgerlicher Gesellschaft“ und „Staat“ leiten lässt, um in der Spaltung des Menschen in den Wirtschaftsbürger („bourgeois“) und den politischen Bürger („citoyen“) das zentrale Unheil der modernen kapitalistischen Welt zu sehen. Je intensiver er sich dann aber mit der Politischen Ökonomie seiner Zeit auseinandersetzt, desto stärker neigt er dazu, die zuvor nur als eine soziale Sphäre begriffene „bürgerliche Gesellschaft“, also die neuen Marktverhältnisse, mit der modernen Gesellschaft insgesamt zu identifizieren. In seinen Grundrissen von 1857/58, dem Rohentwurf zum Kapital, verengt Marx sein Gesellschaftsbild und beginnt, den Kapitalismus zugleich als eine besondere Wirtschaftsform, als eine eigenständige Gesellschaftsstruktur und als eine distinkte kulturelle Lebensform zu begreifen. Im Kapital schließlich rächt sich diese Verwässerung der Vorstellung, was eigentlich den „Kapitalismus“ ausmacht, in der Unfähigkeit, die unerlässliche Bindung der kapitalistischen Akkumulation an institutionelle Voraussetzungen der Gesamtgesellschaft zu durchschauen. In einer Interpretation von einzelnen Passagen des Kapital soll abschließend gezeigt werden, dass Marx selbst Probleme damit hat, das historisch-konkrete Material seiner Analyse unter das leitende Deutungsschema einer linearen Verselbstständigung der Profitmaximierung zu subsumieren. Marx’ Einsicht in die Tendenzen zur Unterordnung aller Lebensbereiche unter das Kapital sind auch für die soziale Gegenwart heute noch bedeutend. Sie werden aber der Tatsache nicht gerecht, dass dieser Prozess je nach moralischem Klima, rechtlichen Verhältnissen und politischen Konstellationen andere institutionelle Gestalten annehmen kann.