Vortrag
Donnerstag, 7.2.2002, 19:00h

Jakob Tanner

Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und neuesten Zeit, Universität Zürich, z. Zt. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin

Kulinarischer Materialismus und gesellschaftliche Ordnung

Die symbolische Kraft der Nahrung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert

Gesprächsleitung: Prof. Dr. Albert Wirz, Berlin

“Der Mensch ist nichts anderes, als er isst”: Dieser denkwürdige Satz findet sich im 1822 veröffentlichten Geist der Kochkunst” des Gastrosophen Karl Friedrich von Rumohr. Autoren wie Anthelme Brillat-Savarin (1826) und Ludwig Feuerbach haben dieses Axiom variiert und damit einen “kulinarischen Materialismus” begründet. Essen und Trinken prägen das Charakterprofil von Menschen, die kollektiven Identitäten sozialer Gruppen, die Beziehungsmuster zwischen Frauen und Männern und die “Völkerpsychologie” von Nationen. Essen und Trinken werden auf diese Weise auch in ein normatives Kontinuum integriert, in dem der Mensch sich mit der Erwartung konfrontiert sieht, nur das zu essen, was er ist (bzw. zu sein hat).

In diesem Weltbild bedingen sich die Dauerhaftigkeit esskultureller Traditionen, die Kontinuität symbolischer Repräsentationen und die Stabilität gesellschaftlicher Strukturen gegenseitig. Kochvorgänge erweisen sich als anspruchsvolle Angelegenheit, weil sie die Stärkehierarchie und die physiologischen Attribute der Lebensmittel mit der gesellschaftlichen Ordnung in Übereinstimmung bringen müssen. Wenn die Subjekte aber mit ihren Wünschen aus dem Regelsystem der Gesellschaft ausbrechen, geraten auch die Praktiken der Inkorporation ausser Kontrolle. Essen und Trinken sind deshalb auch Momente der Gefährdung. Im 20. Jahrhundert setzte sich schliesslich die Einsicht durch, dass der Mensch in diesen komplexen Nahrungsketten gleichsam als “Endlager” fungiert, was heute die Befürchtung steigert, die den grossindustriellen Techniken der Produktivitätssteigerung unterworfene Natur könnte in zunehmend katastrophaler Weise auf die Menschen “zurückschlagen”; BSE ist nur ein Indiz für diese virulente Bedrohung.

Anhand von konkreten Beispielen untersucht Jakob Tanner die Wechselwirkungen von kulinarischen Alltagsmythen, kollektiven Identitäten und gesamtgesellschaftlichen Prozessen (insbesondere der Industrialisierung) auf.