Vortrag
Dienstag, 7.3.2006, 19h

François Guesnet

Gastprofessor für Historische Kultursoziologie, Universität Potsdam

„Civilisierte Völker“ und „verthierte Weibsbilder“
Zur Dynamik von antijüdischer Gewalt und europäischer Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert

Gesprächsleitung: Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, München

Was ist Europa? Und was soll Europa sein? Die Frage nach dem europäischen Selbstverständnis wird nicht erst heute, im Zuge der Erörterung der geographischen und kulturellen Grenzen eines im politischen Einigungs- und Erweiterungsprozess begriffenen Kontinents gestellt. Schon seit langem greift die öffentliche Diskussion immer wieder auf Argumente zurück, die das europäische „Selbst“ auf dem Umweg einer Beschreibung des Nichteuropäischen definieren. François Guesnet zeichnet nach, dass die Welle antijüdischer Gewalt im östlichen Europa zu Beginn der 1880er Jahre in der west- und mitteleuropäischen Öffentlichkeit ein entscheidendes – wenn auch sicherlich nicht das einzige – Element in der Selbstdefinition Europas als „zivilisiert“ darstellte. Nichteuropäisch hingegen waren in dieser Perspektive die gewalttätigen Pogromisten in Rußland, Rumänien oder Polen. Mithilfe dieser Zuschreibung – so Guesnets These – durchlief die (west-)europäische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert einen Prozess der diskursiven (Selbst-)Immunisierung gegenüber den eigenen Gewaltpotentialen. Die Exterritorialisierung von „unzivilisierter“ Gewalt wiederum begünstigte die grenzenlose Entfesselung der Gewalt im 20. Jahrhundert aus der Mitte des Kontinents.

François Guesnet studierte osteuropäische Geschichte, Romanistik und Slavistik in Köln, Warschau, Berlin und Freiburg, wo er 1996 in Neuerer und Neuester Geschichte promovierte. Zwischen 1996 und 2002 forschte er am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Zahlreiche Stipendien, Fellowships und Forschungsaufenthalte führten ihn u.a. nach Warschau, London, Jerusalem und Philadelphia. Zur Zeit ist François Guesnet Gastprofessor für Historische Kultursoziologie an der Universität Potsdam. Er ist Autor u.a. von Lodzer Juden im 19. Jahrhundert. Ihr Ort in einer multikulturellen Stadtgesellschaft (Leipzig 1997) und Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel (Köln, Wien 1998).