Thomas Hauschild
Passions and Politics
Anthropologische Theorien über die Beziehung zwischen Kultur und Gefühl kreisten im 19. und 20. Jahrhundert oft, aber nicht immer um eine angenommene Kluft zwischen “Wilden” und “zivilisierten” Menschen: Evolutionstheoretische Konzepte, ethnopsychologische Argumente, Tönnies“ Soziologie, Freuds Triebtheorie und Lévy-Bruhls einflussreiches “Gesetz der Teilhabe” – all diese Ansätze waren auf die Idee gegründet, dass “Wilde” über den gleichen Gefühlsapparat verfügen könnten wie zivilisierte Menschen, dass aber ihre Hemmungen schwächer sind, ihre Triebe leicht hervorbrechen und stets ein gewalttätiger Ausbruch drohen kann. Der Rassismus machte dies in Richtung auf eine Essentialisierung der Kluft selbst geltend. In einer breiten Welle postkolonialer Kritik, ursprünglich von der surrealistischen Bewegung und von Anthropologen, die die Relativitätstheorie reflektierten, initiiert, wurden all diese Ansätze als essentialistisch und primitivistisch verworfen. Lange vor Foucault reduzierte in der Anthropologie jene Denkweise, die jeden kulturellen Zug in Form einer “Politik von…” erklärte, jeden Gefühlsausdruck auf eine kulturgebundene Ausübung von Macht. Die postkoloniale anthropologische Kritik und die anthropologische Debatte um Writing Culture wirkten tief auf dekonstruktivistische und performative Ansätze in anderen Humanwissenschaften ein, halfen eine postmoderne Begrifflichkeit für Emotionen zu bilden, die diese als Inszenierung und Artikulation versteht. Das Selbst und die Gefühle werden nicht länger als etwas Essentielles im Evolutionsprozess verstanden, sondern als umstellt und produziert durch spezifische Phasen in der Entwicklung der Produktion von Selbst und Gesellschaft – das heißt als Politik. Doch seltsamerweise provoziert eben jener Kulturrelativismus, zurückübertragen auf die Anthropologie, innerhalb unserer eigenen Disziplin unaufhörlich ein Dilemma: Wir schließen uns bereitwillig der heute geläufigen Kritik am Essentialismus an, aber zugleich finden wir die Idee inakzeptabel, dass die westlichen Kulturen historisch neue Entwicklungen waren, die einen Typ reflexiven Denkens hervorbrachten, den man in keiner anderen menschlichen Tradition finden kann. Diese Idee würde uns automatisch auf das Bild des Primitiven oder Wilden zurückführen. Dies ist meines Erachtens der Grund, warum die extrem ethnozentrische und christozentrische Idee der “passio”, die die Art und Weise benennt, in der heutzutage in der westlichen Gesellschaft Gefühle fixiert und ausgedrückt werden, in der Anthropologie paradoxerweise eine optimale Grundlage der Interpretation, des Vergleichs und des Dialogs produziert, insofern sie auf nicht-westliche Kulturen ausgeweitet wird, wie es beispielsweise die Warburg-Schule und andere mehr oder weniger vergessene Traditionen des Denkens zu tun versuchten. Also führt der ausgeweitete Relativismus in der Anthropologie direkt zur Annahme einer gemeinsamen – wenn auch rudimentären, so doch elementaren – Substanz von Gefühlen zurück, die von allen menschlichen Kulturen geteilt wird und immer wieder zwischen Anthropologen und ihrem Gegenüber im Feld verhandelt werden muss. In einer Periode des erhöhten Drucks, die Humanwissenschaften mit den Naturwissenschaften in Kontakt zu bringen, mag dieses Dilemma als solches neue Wege eröffnen, partikularistische und universalistische Entwürfe der Kultur miteinander zu verbinden und postmoderne Kritik mit evolutionärem Denken zusammenzubringen.
Ich werde versuchen, das Problem und mögliche Lösungen zu demonstrieren, indem ich anthropologische, physiologische und historische Befunde (oder Diskurse) diskutiere, die um die Begriffe des Neids, des Bösen Blicks, der Gorgo Medusa und des so genannten Aberglaubens kreisen.
Thomas Hauschild, geboren 1955, studierte Völkerkunde, Deutsche Altertums- und Volkskunde, Psychologie und Evangelische Theologie an der Universität Hamburg; Promotion 1980 in Hamburg; Habilitation in Völkerkunde 1990 in Köln. 1988 – 1992 Wissenschaftlicher Assistent im Institut für Völkerkunde der Universität Köln; seit 1992 Professor für Völkerkunde am Institut für Ethnologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Gastprofessuren u.a. in Hamburg, Heidelberg, Neapel und Rom.
Ausgewählte Veröffentlichungen:
* Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen, Hamburg 1979
* (mit H. Staschen und R. Troschke) Hexen. Katalog zur Sonderausstellung im Hamburgischen Museum für Völkerkunde, Hamburg 1979
* (Mitautor) Die alten und die neuen Hexen. Die Geschichte der Frauen auf der Grenze, München 1987
* (Hg.) Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1995
* Magie und Macht in Italien, Gifkendorf 2002