Matthias Kroß
Conditio humana oder Lob des Neubeginnens. Hannah Arendt und Wittgenstein
Hannah Arendt und Ludwig Wittgenstein – diese Kombination erscheint auf den ersten Blick gewagt, weil weit hergeholt. Eine Brücke, die den Abstand zwischen beiden überspannen könnte, ist der Begriff der Praxis. Während Wittgenstein diesen Begriff nur recht vage als Komplementärbegriff zu dem des Sprachspiels einführt und in diesem Zusammenhang eher pauschal auf die „Einbettung“ von Sprachhandeln in Lebensformen verweist, identizifiert Arendt den Begriff in systematisch und historisch differenzierender Perspektive mit einer Wesensbestimmung der conditio humana. Arendts Praxis-Begriff soll am Beispiel ihres Denktagebuchs 1950–1973 erläutert werden. Die von ihr dort diagnostizierte philosophische Verengung des Handlungs- (praxis) und Herstellungsbegriffs (poiesis) auf den Begriff der Arbeit (anagke) lässt sich m.E. mit Wittgensteins genereller Kritik an der Philosophie in Beziehung bringen. Praxis impliziert nämlich für Wittgenstein wie für Arendt gleichermaßen die Bereitschaft zur Anerkennung der Pluralität und d.h. zum steten Neubeginnen, das dann gelingen kann, wenn das unweigerlich universalistische Momentum von Logik und Philosophie handlungspragmaisch „gehegt“ und in einem Arendt’schen Sinne politisiert wird. Als gemeinsamer Bezugspunkt dient dabei die anthropologisieende Bestimmung des Menschen als zoon logon echon.
Matthias Kroß. Studium der Geschichte und Politologie für das Lehramt an Gymnasien an der Philipps-Universität Marburg/Lahn. Nach dem 1. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien (Geschichte und Politische Weltkunde) 1977–1979 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Geschichte der Philipps-Universität Marburg. 1985 Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Seit 1980 publizistische und wissenschaftsjournalistische Tätigkeit. Zugleich Studium der Philosophie (Promotion 1993). Seit 1996 Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum in Potsdam. Forschungs- und Lehrtätigkeit: Seit 1998 Lehrbeauftragter in der Fachrichtung Allgemeine Soziologie an der Universität Potsdam; Juni 2005: Research Fellow der British Academy, London; November–Dezember 2008: Visiting Professor für westliche Philosophie an der von Rabindranath Tagore gegründeten Universität Visva-Bharati im westbengalischen Santiniketan (nahe Kolkata); im Sommersemester 2010: Gastprofessor für Philosophie an der Universität Wien.
Zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem zu Werk und Leben Ludwig Wittgensteins, u.a. Klarheit als Selbstzweck; zuletzt als Herausgeber mit Esther Ramharter: Wittgenstein übersetzen, Berlin 2012. Zusammen mit Jens Kertscher Herausgeber der Buchreihe Wittgensteiniana im H-E Verlag.