Katharina Hertfelder
»Wir müssen uns was erzählen lassen«. Über philosophische Stilübungen bei Hans Blumenberg
»Wir können nicht alle Erfahrungen selber machen. Die Welt kostet Zeit, und sie ist zu viel für ein Leben. Anders gesagt: Wir müssen uns was erzählen lassen. […] Leben und Welt, sie passen nicht zueinander – und müssen doch miteinander auskommen.«
Den »großen Erzähler der kleinen Form«, Hans Blumenberg, kennt man als eloquenten Vertreter narrativer Philosophie. Dass er Geschichten als »Surrogate für Erfahrungsdefizite« begreift, »die für jedes Leben konstitutiv sind«, legt er nicht nur in seiner Glosse Zu wenig Leben für die Welt, sondern vor allem auch in seiner Auseinandersetzung mit Anekdoten und Fabeln dar. Diese beiden narrativen Grundelemente seiner philosophischen Arbeit bieten lebensweltliche Orientierung und vermessen dadurch, dass sie bei Blumenberg immer wieder variiert und neu erzählt werden, die Grenzen des philosophisch Wissbaren.
Ähnlich wie Raymond Queneau in seinen Exercises de style aus dem Jahr 1947 spielt Blumenberg Jahrzehnte später Grundsujets wie das der Fabel von Wolf und Lamm – die sich am Fluss treffen und ins Gespräch über ihr Kräfteverhältnis kommen, was meist letale Folgen für das Lamm nach sich zieht – in zahlreichen narrativen Varianten durch. Sowohl auf der Ebene der »histoire« als auch auf der Ebene des »discours« bearbeitet Blumenberg diese Handlungskonstellation. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Tatsache, dass die Protagonisten in Blumenbergs Fabelvariationen zu Nutznießenden des narratologischen Variantenreichtums werden und somit die tentative Vorläufigkeit anderer Fabelfassungen auf der Ebene der »histoire« mitreflektieren.
Dieser Beitrag vergleicht Blumenbergs Texte über Fabelvariationen mit seinen Bearbeitungen von Anekdoten über letzte Worte berühmter historischer oder philosophischer Persönlichkeiten. Im Kern soll es darum gehen, die narrativen Bearbeitungsverfahren, die Blumenberg auf Fabeln beziehungsweise Anekdoten anwendet, miteinander zu vergleichen.
Katharina Hertfelder studierte Deutsche Literatur an der Universität Konstanz und war von 2017 bis 2020 Doktorandin am DFG-Graduiertenkolleg 2190 Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen. Seit 2021 ist sie Wissenschaftliche Volontärin am Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar.