Vortrag
Samstag, 28.1.2012, 16:15h

Benno Gammerl

Uneigentliche erste Liebe? Wie Lesben und Schwule über ihre frühen gegengeschlechtlichen Erfahrungen reden

Erzählungen von der ersten Liebe schildern diese als träumerisch-naive Illusion oder als märchenhaft-intuitive Annäherung, die sich in späteren Konflikten und Problemen als tragfähig erweist. Während in den Biografien gegengeschlechtlich begehrender Menschen diese Reibungen zwischen erster und erwachsener Liebe (scheinbar) allein im Zentrum stehen, kommt bei Männern und Frauen, die – wie man so sagt – das Ufer gewechselt haben, die Spannung zwischen dem „normalen“, andersgeschlechtlichen und dem „anderen“, gleichgeschlechtlichen Begehren hinzu. Wie berichten Männer liebende Männer und Frauen liebende Frauen über frühe erotische und amouröse Erfahrungen mit Personen des anderen Geschlechts? Wie verfahren sie mit diesen Episoden, die ihrem „eigentlichen“ Begehrensmuster widersprechen, im biografischen Rückblick? Die Lebensgeschichten, die ich für mein Forschungsprojekt über homosexuelles Gefühlsleben auf dem westdeutschen Land gesammelt habe, versammeln vielfältige Möglichkeiten des Umgangs mit solchen „uneigentlichen“ ersten Liebeserfahrungen. Der Bogen reicht von ihrer Abspaltung über Verleugnung und Rechtfertigung bis zu ihrer unaufgeregten Integration in die Biografie. Dabei zeigen sich je spezifische argumentative und narrative Muster. Manche Erzählpersonen unterscheiden deutlich zwischen erstem Sex und erster Liebe oder sprechen von bisexuellen Neigungen, andere verweisen auf ihre frühere Unwissenheit oder schildern einen zum Scheitern verurteilten Versuch, ein „normales“ Leben zu führen. Bei der Erkundung dieses Spektrums verfolgt der Vortrag zum einen die unterschiedlichen Zeitlichkeitsstrukturen, welche die erste Liebe und die Erinnerung daran jeweils bestimmen. Zum anderen sucht er nach geschlechter- und generationenspezifischen Mustern, die verdeutlichen: Biografische Konfigurationen emotionaler Erfahrungen werden nicht nur von individuellen Konstellationen geprägt, sondern auch von soziokulturellen und historisch je besonderen Umständen.

Benno Gammerl ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Dort arbeitet er an seinem Forschungsprojekt Anders fühlen. Homosexualität und Gefühlsleben auf dem westdeutschen Land (1960-1990). 2008 promovierte er an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation über Staatsbürgerschaft in imperialen Kontexten. Zu seinen methodischen und theoretischen Interessenschwerpunkten zählen die oral history, die vergleichende, transnationale und postkoloniale Geschichte, die Historiografie der Emotionen sowie gender- und queer-theoretische Ansätze.
Ausgewählte Publikationen: Staatsbürger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich, 1867-1918 (2010).