»The past in all its messiness«. Historisches Wissen als Chance für die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit
Per Leo
»The past in all its messiness«. Historisches Wissen als Chance für die außerwissenschaftliche Öffentlichkeit
Unter den akademischen Disziplinen stellt die Geschichtswissenschaft einen Sonderfall dar. Kein anderes Fach ist derart offen für die Bedürfnisse und Mechanismen der nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Wenn Historiker streiten, nehmen Journalistinnen und Publizisten, Politikerinnen und Facebookfreunde nicht nur ausnahmsweise, sondern ganz selbstverständlich daran teil. Während sich aber der vielfältige Gewinn, den das Fach und seine Leute aus den jeweils aktuellen Kultur- und Deutungskämpfen ziehen, gut belegen lässt, fällt die Bilanz in umgekehrter Richtung weniger leicht. Dass historisches Wissen für alle möglichen Konflikte instrumentalisiert wird, ist offensichtlich. Doch inwiefern kann der Vergangenheitsbezug auch einen produktiven Beitrag zur Gegenwartsbewältigung leisten? Wann ist die Historie, mit Nietzsche gesprochen, von Nutzen »für das Leben«? Unter welchen Bedingungen trägt sie eher zur Lösung als zur Verfestigung politischer und sozialer Probleme bei? Die These lautet: Wenn es gelingt, historische Komplexität, statt sie auf Positionen und Interessen zu reduzieren, in ein Argument zu übersetzen. Die Alternative von historistischer Distanz und geschichtspolitischem Engagement war immer schon falsch. Aus der Geschichte lernen kann nur, wer sich von der Vergangenheit irritieren lässt.
Per Leo lebt als freier Autor und Schatullen-Produzent in Berlin. Er wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman Flut und Boden (2014) stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfasste Leitfaden Mit Rechten reden (2017) löste eine intensive Debatte aus. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Aktuell erschienen: Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur (2021)