Vortrag
Samstag, 6.7.2019, 17:00h

Diana Pinto

(Paris)

The Gilets Jaunes, Or Credibility’s own Credulity

Während der letzten fünf Monate (zweiundzwanzig aufeinander folgende Samstage, um genau zu sein) und auch jetzt noch, Mitte April, während ich diese Zeilen niederschreibe,
hat die französische Gelbwesten-Bewegung Unruhe in Frankreichs politisches Leben gebracht, indem sie die bislang unterdrückten Stimmen der Gesellschaft auf nationaler Ebene hörbar gemacht hat. Jedoch hat sie damit auch wirtschaftliches Chaos und einen Anstieg der Straßengewalt herbeigeführt, der an die Zeit der Revolution erinnert. Erschienen die Besorgnisse anfangs als verständliche und ernst zu nehmende Äußerungen, uferten sie langsam, aber sicher zu einer ungenießbaren Mischung chaotischer, meist anarchistischer Forderungen aus, die auf Verschwörungstheorien, Falschmeldungen und antisemitisches Gedankengut zurückgriffen.

War dieser Übergang von einer glaubwürdig begründeten sozialen Unruhe zu leichtgläubigen und gefährlichen Bekenntnissen ein qualitativ neues Phänomen, das in einer beispiellosen Krise der Glaubwürdigkeit wurzelte? Oder waren die Gelbwesten, wenngleich befeuert durch eine von Eigeninteressen gesteuerte Presse und dubiose soziale Medien, nur ein weiteres Kapitel in der langen, revolutionären Historie Frankreichs? Die Geschichte lehrt, dass sich soziale Bewegungen aus einer schillernden Vielfalt glaubhafter und zweifelhafter Anliegen zusammensetzen, bei denen sich erst im Nachhinein die Spreu vom Weizen trennen lässt. Ist es möglich, dass die traditionellen Prüfsteine der Glaubwürdigkeit (wie empirische Evidenz, Überprüfbarkeit, historisches Bewusstsein, die Vernunft selbst), die anfangs zum inhaltlichen Kern der Gelbwestenbewegung gehörten, zweifelhafte Nachkommen gezeugt und somit zu ihrem Niedergang selbst mit beigetragen haben?
Ich schreibe dies in medias res. Mit der Zeit – oder im Juli – werden sich Antworten finden.

Diana Pinto arbeitet im Bereich der Ideengeschichte und als Schriftstellerin. Sie studierte an der Harvard University und lebt in Paris. Als Senior Fellow am Institute for Jewish Policy Research hat sie zu einem pan-europäischen Projekt Voices for the Res Publica geforscht. Zudem war sie als Beraterin für die zivilgesellschaftliche Programmarbeit des Europarats in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion tätig. Pinto erhielt ein Fulbright-Stipendium sowie Forschungsstipendien des American Council of Learned Societies und des Collegium Budapest. Sie hat diverse Studien zu transatlantischen Problemen und dem jüdischen Leben im heutigen Europa publiziert. In ihrer Autobiographie Entre deux mondes (1991) berichtet sie über ihre Erfahrungen in Europa und in den USA. Zu ihren weiteren Publikationen gehören die Bücher Contemporary Italian Sociology (1981) und Israel Has Moved (2013).

Diana Pinto is an intellectual historian and writer, educated in the United States (Harvard) and now living in Paris. As Senior Fellow at the Institute for Jewish Policy Research she has worked on the pan-European project Voices for the Res Publica. She also worked as a consultant to the Political Directorate of the Strasbourg-based Council of Europe for its civil society programs in Eastern Europe and the former Soviet Union. Pinto has been a Fulbright Fellow, and has received research grants from the American Council of Learned Societies and the Collegium Budapest. She has written widely on transatlantic issues and on Jewish life in contemporary Europe. Her autobiography Entre deux mondes (1991) is about her experiences living in Europe and the United States. Other book publications include Contemporary Italian Sociology (1981) and Israel Has Moved (2013).