Lecture
Friday, May 12, 2023, 4:00 PM

Nicola Zambon

Selbst und narrative Identität – ausgehend von Paul Ricœur

Als Antwort auf die Frage danach, wie die Identität der Person zu fassen, wie ihre Genese zu erklären sei, haben sich Theorien und Modelle etabliert, die die Ent-stehung des Selbst als narrative Konstruktion verstehen. Dabei sei persönliche Identität weder substanziell noch funktional noch als Leistungsbündel zu fassen – sondern eben als ein konstitutiver narrativer Zusammenhang, eine Lebensgeschichte. Diese Grundidee soll am Leitfaden von Paul Ricœurs Temps et récit und Soi-même comme un autre zur Debatte gestellt werden: Danach ist weder unser Leben selbst schon narrativ und kann einfach direkt erzählt werden, noch ist die narrative Identität eine bloße Konstruktion; vielmehr beruht die persönliche Identität auf dem narrativen Vorverständnis unserer Handlungswelt, das in ausdrücklichen und umfassenderen wirklichkeitserschließenden Geschichts- und möglichkeitserschließenden Fiktionserzählungen Vertiefung findet, in eine narrative Refiguration unserer Zeiterfahrung einmündet, schließlich in einer reflexiven Wendung zu einem narrativen Selbstverständnis führt. So konstituiert sich das Subjekt derart, wie Marcel Proust es sich wünschte, als Leser und Schreiber des eigenen Lebens zugleich: als nachträgliche literaturwissenschaftliche Deutung und unaufhörliche Refiguration des narrativen Gewebes, der wahren und fiktiven Erzählungen, aus denen das Leben besteht.

Nicola Zambon studierte Philosophie in Bologna, Mainz und am Husserl-Archiv in Freiburg i.Br. und in München. 2015-2017 war er Stipendiat an der Ecole Norma-le Supérieure in Paris mit einem Forschungsprojekt zur »Rhetorik (in) der Phänomenologie. Zum Rede- und Sprachverständnis bei Edmund Husserl und im Frühwerk Martin Heideggers«. Seit April 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität in Berlin und habilitiert über Kants Moralanthropologie. Von Oktober 2022 bis Juli 2023 ist er Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Ausgewählte Publikationen: Langages de la phénoménologie. Ex-pression, description et rhétorique de Husserl à Blumenberg (Mit-Hg. 2022); Das Nachleuchten der Sterne. Konstellationen der Moderne bei Hans Blumenberg (2017). Er ist Herausgeber mehrerer Werke aus dem Nachlass von Hans Blumenberg.