Vortrag
Freitag, 30.1.2009, 18h

Dieter Thomä

Professor für Philosophie, Universität St. Gallen

Re-moralizing Fertility

Es gibt zwei Standardansichten zur menschlichen Fortpflanzung: Die eine behauptet, dass sie schlicht ein natürliches Phänomen sei, die andere meint, dass es die Sache der betroffenen Personen sei, ob sie Kinder haben oder nicht. Doch sowohl die naturalistische als auch die liberale Sicht führen zu einer Entmoralisierung der Fortpflanzung. Einerseits gibt es keine Notwendigkeit für Moral, wenn die Natur das Sagen hat, andererseits haben normative Fragen keine Zugangsberechtigung, wenn Kinder haben oder nicht nur als Frage des Geschmacks gilt und auf einer rein privaten Entscheidung beruht. Die zweite Interpretation ist hier ausschlaggebend. Die Fortpflanzung remoralisieren meint sich mit einer liberalen Privatisierung dieser Art auseinanderzusetzen. Einige der Remoralisierer benutzen Argumente, die aus Debatten um bedrohte Arten bekannt sind. Sie setzen kinderlose Individuen, die nicht bereit sind, die Gemeinschaft zu reproduzieren, moralisch unter Druck und kritisieren sie dafür, dass sie die soziale Sicherheit gefährden. Argumente dieser Art gab es schon im 19. Jahrhundert in Frankreich, und sie erscheinen im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts wieder. Andere wiederum halten sich fern von solchen fragwürdigen Ansprüchen auf gemeinschaftliche Güter, die individuelle Rechte aufheben, und vertreten eine Remoralisierung ganz anderer Art. Sie akzeptieren die liberale Behauptung, dass Fortpflanzung eine private Angelegenheit sei, nicht, indem sie behaupten, dass es schon immer und unvermeidlich eine moralische Frage war. Ein moralischer Diskurs dieser Art beinhaltet Vorstellungen des Guten und Begriffe von Autonomie und Gemeinschaftlichkeit.

Dieter Thomä studierte in Freiburg und Berlin, volontierte an der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg und arbeitete als Redakteur beim Sender Freies Berlin. Er lehrte in Paderborn, Rostock, New York, Berlin und Essen, war Fellow am Getty Center in Los Angeles und ist seit 2000 Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Buchveröffentlichungen u.a.: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910 – 1976 (1990); Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform (1992); Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (1998); Unter Amerikanern. Eine Lebensart wird besichtigt (2000); Vom Glück in der Moderne (2003) und Väter. Eine moderne Heldengeschichte (2008).

Veranstaltung in englischer Sprache