Paris ist die Heimat des Fremden. Anmerkungen zu Ulrike Ottingers filmischer Autobiografie Paris Calligrammes
Ulrich Raulff
Paris ist die Heimat des Fremden. Anmerkungen zu Ulrike Ottingers filmischer Autobiografie Paris Calligrammes
Paris Calligrammes ist eine Geschichte in Bildern, deren Natur nicht danach drängt, sich zu einer Erzählung zu verbinden. Ausschnitte aus alten Filmen artiku-lieren sich mit dokumentarischen Aufnahmen und rezenten Sequenzen; Gegenwart spiegelt sich im Archiv. Gelegentlich erklingt Musik: Chansons, Jazz. Ulrike Ottinger schreibt und malt mit der Kamera. Es ist ihre Stimme, die in den Bildern die Geschichte aufdeckt und sie mit Sinn erfüllt: die Stimme einer Frau, die sich erinnert — an die Frau in Bewegung, die sie damals war, in den Sechzigern in Paris: »Gehen und Sehen, meine wichtigsten Beschäftigungen«. Das Porträt einer Künstlerin als junge Frau, erzählt von ihrem älteren Ich: ein filmischer Künstlerroman, verknüpft mit der Geschichte einer Stadt. Eine dichte Beziehung, die nach sieben Jahren in die Brüche geht. Beide haben sich auseinanderentwickelt, Paris hat das Trauma Algerien verdrängt, die Malerin den Film entdeckt, der Mai 68 treibt beide ins Freie. Von ihrem Dachzimmer nahe der Sorbonne blickt Ulrike Ottinger auf die Statue Montaignes. Sein Reflexionsstil ist auch der ihre; in ihrer Filmcollage schreibt sie eine Reihe von Essais: über die deutsche Emigration, das koloniale Erbe Frankreichs, die Avantgarden, den Film, den Tag und die Nacht. Alles beginnt und endet mit den wahren Helden der Stadt: Paris Calligrammes ist eine Hommage an die Straßenfeger von Paris.
Ulrich Raulff ist seit 2018 Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa). Er studierte Philosophie und Geschichte in Marburg, wo er 1977 auch seine Promotion abschloss. Von 1978 bis 1993 war er in Paris, Florenz und Berlin freiberuflich Übersetzer und Mitarbeiter mehrerer deutscher Medien. 1995 habilitierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fach Kulturwissenschaft. Seit 1994 war er Redakteur, seit 1997 Ressortchef im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit 2001 Leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Von 2004 bis 2018 war er Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Neuere Publikationen: Sauerland als Lebensform (2021); Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung (2015); Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens (2014); Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben (2009).