Jan Philipp Reemtsma
Monsieur Bovary
Jean Amérys Charles Bovary, Landarzt ist ein Roman und sollte auch als solcher gelesen werden. Der Roman inszeniert einen Prozess, den Charles Bovary gegen Gustave Flaubert führt und gewinnt – was auch immer das heißen mag. Flaubert wird beschuldigt, die Kunstfreiheit missbraucht zu haben. Denn er habe mit Charles Bovary einen Mann geschaffen, der von vornherein nicht dafür geeignet sei, der Liebhaber zu sein, den Emma Bovary verdiente. Flaubert, so der Vorwurf, sei kein wahrhaft realistischer Autor, da er die Wirklichkeit nicht als ein Bündel von Möglichkeiten dargestellt habe, sondern als ein Gefängnis des Faktischen (für Charles). Améry verteidigt Charles Bovary gegen seinen Schöpfer, weil er selbst sich einen passenden Liebhaber für Emma wünscht, anders als der, den sie sich ausgesucht hatte. Amérys Verteidigung von Charles verwandelt sich in eine Liebesfantasie. Charles Bovary, Landarzt ist ein Roman vom und über den Autor Jean Améry, gerichtet an eine Frau, die ein anderer Autor geschaffen hat. Ein seltsames Buch – und ein faszinierendes.
Jan Philipp Reemtsma, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur sowie Gründer und Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Arno Schmidt Stiftung, zudem Gründer und bis März 2015 Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Zu seinen zahlreichen Büchern zählen Im Keller (1997), Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne (2008) und Schriften zur Literatur. Gesamtwerk (2015), zuletzt erschien Helden und andere Probleme (2020).