Bettina Stangneth
Jüdischer Kant – Deutscher Kant. Die Philosophie-Verwirrung des nationalsozialistischen Jahrhunderts
Nationalsozialismus und Philosophie – wem will dazu mehr einfallen als verbrannte Bücher und vertriebene Gelehrte? Wann hätten die Nazis auch die Zeit haben sollen, in den zwölf Jahren über Philosophie nachzudenken? Vor allem: wer hätte morden können wie sie, wenn er je nachgedacht hätte? Sogar bei Martin Heidegger trennen wir mit seltener Sorgfalt die immer wieder neue Frage nach seiner Beziehung zum Nationalsozialismus von der schon lange bekannten Antwort, dass er ein Antisemit war, und behaupten unverdrossen von beidem, es habe selbstverständlich nichts miteinander und schon gar nichts mit Philosophie zu tun. Und doch zeugen ungezählte Aufzeichnungen und Bücher von dem Willen, nicht nur die Bibliotheken, sondern auch das Denken zu arisieren. Noch in den schwersten Kriegsjahren rang man an Universitäten, auf Tagungen, ja sogar in den Ministerien nicht nur um eine deutsche Mathematik, sondern auch um einen judenreinen Immanuel Kant und das so ernsthaft, als würde der Endsieg genau hier entschieden.
Dass die Philosophen nach Auschwitz so auffällig stumm geblieben sind, erklären wir uns gern mit Theodor W. Adornos Empfehlung, dass dem Grauen nichts als Schweigen angemessen sei. Die viel wichtigere Frage allerdings könnte lauten, wann genau die Philosophen mit dem Reden aufgehört haben und wo ihr Denken geblieben ist.
Bettina Stangneth studierte bei Klaus Oehler und Wolfgang Bartuschat in Hamburg Philosophie und promovierte 1997 über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Sie hat Kants Religionsschrift herausgegeben und kommentiert, über die Geschichte des Antisemitismus im 18. Jahrhundert geschrieben und zur nationalsozialistischen Philosophie gearbeitet. Seitdem forscht sie zur Lügentheorie. 2011 erschien Eichmann vor Jerusalem, 2012 folgten die Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörers Avner W. Less. Bettina Stangneth ist unabhängige Philosophin und lebt in Hamburg.