Rüdiger Zill
Interdisziplinarität oder Einheit der Wissenschaften? Hans Blumenberg als Pionier zwischenfachlicher Verständigung
Obwohl die öffentliche Wahrnehmung von Hans Blumenberg heute durch das Bild des späten Einsiedlers geprägt ist, war der Philosoph die meiste Zeit seines Lebens ein hoch kommunikativer Mensch. Sein Werk entstand im Wesentlichen in interdisziplinären Arbeitszusammenhängen. Schon als Jugendlicher war er ein Vielleser und intellektueller Allesfresser, der seine Inspirationen quer über die Fachgrenzen hinweg suchte. Den Grundstein seines Gedankengebäudes, auch seiner Bekanntheit innerhalb der akademischen Welt, legte er nicht durch die Publikation von Monographien oder von Artikeln in Fachjournalen, sondern durch Beiträge für die von dem Jaspers-Schüler Manfred Thiel herausgegebene Zeitschrift Studium Generale, die in monatlich erscheinenden Heften zu bestimmten allgemeinen Themen die Sichtweisen verschiedener Disziplinen versammelte. Bei einzelnen Heften leistete Blumenberg hier auch herausgeberische Unterstützung.
Veranlasst durch äußerliche Umstände, aber wohl auch weil er die Buchbindersynthese solcher multidisziplinären Unternehmungen letztlich unbefriedigend fand, stellte Blumenberg seine Mitarbeit an der Zeitschrift 1960 ein. An ihre Stelle traten bald die echten interdisziplinären Diskussionen in der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«, die er in den frühen 1960er-Jahren mit begründet hatte. Als er sich dann auch von dieser Praxis enttäuscht fand, zog er sich im Laufe der 70er-Jahre nach und nach aus solchen Kooperationen zurück.
Studium Generale selbst wurde 1971 eingestellt, doch erst in ihren letzten Jahren änderte sich ihr Untertitel: Aus der »Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildungen und Forschungsmethoden« wurde eine »Zeitschrift für interdisziplinäre Studien«. Lässt sich aus diesem Wechsel der näheren Aufgabenbestimmung generell etwas über eine veränderte Theorie und Praxis der Interdisziplinarität ablesen? Ist Blumenberg paradigmatisch für eine in dieser Zeit stattfindende Entwicklung? Wie neu war diese Praxis überhaupt? Bezog sie sich eher auf eine »kleine« oder auch auf eine »große Interdisziplinarität«? Inwieweit dachte Blumenberg dabei auch an Modellübertragungen von Theoriestrukturen zwischen Fächern? Ist sein Rückzug schließlich nur das Ergebnis einer individuellen Verstimmung gewesen oder darüber hinaus aussagekräftig noch für heutige Bemühungen um Interdisziplinarität?
Rüdiger Zill studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London. 1994 Promotion an der Freien Universität, Berlin mit der Arbeit Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien. 1994–1997 Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden. Seit 1997 Wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, Potsdam.
Ausgewählte Publikationen: Der absolute Leser. Hans Blumenberg – eine intellektuelle Biographie (2020); Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten (Mit-Hg., 2017); Ganz Anders? Philosophie zwischen akademischem Jargon und Alltagssprache (Hg., 2007).
Website: http://www.ruedigerzill.de