Peter Weingart
Interdisziplinarität als Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen oder wissenschaftspolitische Schimäre?
Wissenschaft wird zunehmend mit der Erwartung konfrontiert, Wissen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme bereitzustellen. Der Vortrag geht der Frage nach, inwieweit sich innerhalb der Geisteswissenschaften Hinweise darauf finden lassen, dass diese Fächer auf gesellschaftliche Erwartungen reagieren und sich stärker auf eine problemorientierte Forschung umstellen, wie sie üblicherweise mit Interdisziplinarität in Zusammenhang gebracht wird. Es werden Denominationen und Ausschreibungstexte geisteswissenschaftlicher Professuren sowie Titel und Kurzbeschreibungen von Exzellenzclustern und Sonderforschungsbereichen daraufhin untersucht, ob sich in ihnen Hinweise auf Interdisziplinarität und Problemorientierung finden. Die jeweils höheren Anteile der interdisziplinären gegenüber der problemorientierten Forschung in den ausgeschriebenen Professuren, Exzellenzclustern und Sonderforschungsbereichen deuten darauf hin, dass ein großer Anteil interdisziplinärer Forschung Resultat einer wissenschaftsinternen Entwicklungsdynamik ist. Dagegen werden die höheren Anteile der problemorientierten Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster als zeitlich befristete Problemorientierung interpretiert, deren Verfestigung (noch) aussteht. Es besteht der Verdacht, dass das Etikett »Interdisziplinarität« vor allem eine wissenschaftspolitische Funktion erfüllt.
Peter Weingart ist emeritierter Professor für Soziologie (Wissenschaftssoziologie und -politik) an der Universität Bielefeld. Er hat Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Staatsrecht in Freiburg, Berlin und Princeton studiert. Er war von 1993 bis 2009 Direktor des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung an der Universität Bielefeld, von 1989 bis 1994 Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech. Von 2015 bis 2020 hatte er den South African Research Chair for Science Communication an der Stellenbosch University inne. Er ist seit 2007 Editor der Zeitschrift Minerva. Seine Forschungsschwerpunkte sind derzeit Probleme der Wissenschaftskommunikation, die Stellung der Wissenschaft in der Demokratie, Medialisierung der Wissenschaft sowie die wissenschaftliche Politikberatung.
Ausgewählte Publikationen:
»Wissenschaft ist überall, nur keiner weiß Bescheid: Über kulturelle Nähe und Distanz zur Wissenschaft« (2021, J. Milde u.a. (Hg.): Intention und Rezeption von Wissenschaftskommunikation); Science Communication in South Africa. Reflections on Current Issues (Mit-Hg., 2019); »The Conflation of Motives of Science Communication—Causes, Consequences, Remedies« (Mit-Autor, 2019, Journal of Science Communication 18.3); Wissen – Beraten – Entscheiden. Form und Funktion wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland (Mit-Autor, 2008); Von der Hypothese zur Katastrophe. Der anthropogene Klimawandel im Diskurs zwischen Wissenschaft, Politik und Massenmedien (Mit-Autor, 2007); Die Wissenschaft der Öffentlichkeit (2005), Wissenschaftssoziologie (2003).
Website: https://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/weingart/