Vortrag
Dienstag, 6.5.2014, 15:30h

Gregor Herzfeld

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Seminar für Musikwissenschaft, Freie Universität Berlin

Ideologie der Freiheit. Zum Musiktransfer zwischen den USA und West-Deutschland

Nach dem Zweiten Weltkrieg befanden sich die Musikszenen Europas in einer Art Schockstarre. Die weitgehende Vereinnahmung der musikalischen Produktion, die die Pflege der „großen Tradition“ ebenso wie den Bereich der Neukomposition umfasste, durch die Ideologien von kriegführenden Parteien hatte Unsicherheit und Ratlosigkeit im Umgang mit dem „Kulturgut“ Musik ausgelöst; insbesondere unter den kritischen und experimentell gesinnten Komponisten der zukünftigen Avantgarde. Ausdruck dieser Starre, die sich während einer kurzen Phase im Umfeld der sog. Darmstädter Schule einstellte, war das streng serielle Komponieren, wodurch die Komponisten sicherstellen wollten, die völlige Kontrolle über ihre Kunst gegenüber jeder ideologischen Vereinnahmung zu behalten. Doch bald schon empfand man diese Kompositionsweise, zum Teil von ihren Schöpfern selbst, als steril, leblos und autoritär. So wurden in der Mitte der 1950er Jahre wiederum ideologisch verbrämte Diskurse wirksam. Bei der Frage, an welchen Werten und ästhetischen Konzepten sich die Neue Musik orientieren sollte, musste man in Westdeutschland mit einem Auge in den Osten blicken und erkennen, wie dort Musik wiederum in den Dienst eines totalitären politischen Systems gestellt wurde. Das andere Auge wanderte über den Atlantik und erblickte in den USA ein System, das sich durch seine Geschichte zum Hort der Freiheit stilisierte. Diese Position im Brennpunkt des Kalten Kriegs, zwischen Freund und Feind, ließ auch die Ideologie der „amerikanischen Freunde“ zur Richtschnur und zum Maßstab werden: die Ideologie der Freiheit.
Der Vortrag möchte zeigen, was diese Ideologie politisch und musikalisch ausmacht, wie sich Komponisten und Musikkritiker in der BRD der 1950 und 60er Jahre in ihren künstlerischen Konzepten von ihr leiten ließen und dass sich deshalb musikalische freedom fighters wie John Cage, David Tudor und Morton Feldman von einstmals belächelten Musikclowns zu wichtigen Vorbildern der Szene entwickelten. Es wird die Frage zu stellen sein, inwieweit dabei im amerikanisch gefärbten Rückgriff auf die Idee einer „musikalischen Autonomie“ ein im Ostblock als dekadent, bourgeois und formalistisch verpöntes Stück westlicher Cold-War-Rhetorik in Stellung gebracht wurde.

Gregor Herzfeld, 1996–2001 Studium der Musikwissenschaft und Philosophie in Heidelberg und Cremona; 2001 Magister Artium mit einer Arbeit zu Elliott Carter und Morton Feldman; 2002–2005 Wissenschaftlicher Angestellter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg. 2005–2006 Visiting Assistant in Research an der Yale University, New Haven. 2006 Promotion in Musikwissenschaft mit einer Dissertation zum Problem der musikalischen Zeit in der experimentellen amerikanischen Musik. 2006–2007 Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart; Stipendiat der Paul-Sacher-Stiftung Basel und der Fritz-Thyssen-Stiftung. Seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Freien Universität (Arbeitsgebiet Prof. Dr. Riethmüller). Schriftleiter des Archivs für Musikwissenschaft. Januar 2012 Habilitation an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über Edgar Allen Poe. 2012/13 Vertretung der Professur Wolfgang Rathert an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Wichtige Veröffentlichungen: Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik. Charles Ives bis La Monte Young (2007); Poe in der Musik. Eine versatile Allianz (2013); Herausgeberschaften: Furtwänglers Sendung (mit Albrecht Riethmüller; in Vorbereitung); Herausgabe und Einleitung zu: Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik (Reprint der Ausgabe Berlin 1771, 2004). Zahlreiche Buchbeiträge und Zeitschriftenaufsätze zu den Themenfeldern Amerikanische Musik; Musik und Stimmung bzw. Atmosphäre; Musik und Philosophie; Musikästhetik; Musiktheorien (vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert); Pop- und Rockmusik.