Hans Richard Brittnacher
Gestrandete Helden. Bilanzen des Scheiterns
Auch wer den Untergang überlebt, entkommt ihm nicht – aus den reißenden Fluten und vor den Haien gerettet, von der Brandung an den Strand gespült, erwachen die Helden der Robinsonaden körperlich lädiert, seelisch oft noch schlimmer beschädigt, auf einem Eiland, ihrer neuen Heimat. Für viele erweist die Insel sich als Ort des Glücks, einer fruchtbaren Natur, ein locus amoenus, der den Schiffbrüchigen mit allem versorgt, was er zum Leben braucht. Von den Tahitiromanen des 18. Jahrhunderts bis zu den rezenten Teenagerromanzen aus Hollywood reicht die Palette einer literarischen Feier des unbeschwerten Lebens in tropischer Natur. Aber insulare Glücks- und Fluchtphantasien sind nicht die Regel – die Literatur kennt auch die Verzweiflung des neuen Lebens in buchstäblicher Isolation. Schon der vielleicht berühmteste Inselroman der Weltliteratur, Daniel Defoes Robinson Crusoe, lässt sich als exemplarischer Beleg für die These von der Robinsonade als literarischem Modell gähnender Monotonie lesen.
Die gestrandeten Helden leben wie die kleine Bertha aus Tiecks Der blonde Eckbert in der Waldeinsamkeit ein Leben im immergleichen Einerlei, nur vom Rhythmus der Jahreszeiten bewegt – eine buchstäbliche Monotonie und Monophonie des Leids: die unablässigen Schmerzensschreie Philoktets auf Lemnos, die unveränderlichen Klagen Ariadnes auf Naxos, keine Entwicklung, kein Fortschritt, nur das Jahr um Jahr bekräftigte Urteil ausgebliebener Rettung, eine auf Ewigkeit gestellte Existenz der fortwährenden Belanglosigkeit, die räumliche Vergegenwärtigung von Nietzsches abgründigstem Gedanken, die ewige Wiederkehr des Gleichen. Die antiken Philosophen haben das nördliche Thule als solchen Topos des zähen Nichts imaginiert, wo Tage und Nächte jeweils sechs Monate dauern und die See so dickflüssig ist, dass fliehende Ruderer den Kampf mit dem Element nur verlieren können.
Freilich ist für sie alle die Insel noch der Ort eines – wenn auch eingeschränkten – Lebens, noch schlimmer sind die Inselerfahrungen der Verbannten und der auf Inseln Gefangengesetzten, die hier ihr Leben beschließen werden. Das Gegenstück zu Defoes immerhin auch in der Erschöpfung noch tatkräftigen Robinson ist Adelbert von Chamissos Salas y Gomez, der, auf einer Insel gestrandet, hoffnungslos auf das ihm unerreichbare Wrack starrt, sich in quälendem Heimweh verzehrt und seinen Strapazen erlegen ist, als endlich ein rettendes Schiff anlegt.
So wie das Schiff eine unverwüstliche Metapher für die Hoffnungen der Lebensfahrt und der Schiffbruch für die Gefährdung dieses Lebens und seines Hochmuts abgibt, so ist die Insel die ambivalente Metapher für die Welt der glücklich Davongekommenen, aber auch für die der von ihrem Unglück Gezeichneten: Das Stranden ist, so gesehen, auch ein Bild für besitzloses und achtlos übersehenes Strandgut, für Lebenskonzepte, die es sich zumuten, auch die Erfahrung der Krise zu reflektieren, sogar die einer unberechenbaren Kontingenz, die ihre Opfer trostlos, steckengeblieben, auf verlorenem Posten sich selbst überlässt.
Hans Richard Brittnacher war nach seinem Studium in Marburg und Berlin wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin und vier Jahre Lektor an der Universität Bari (Süditalien). Nach seiner Promotion 1994 und der Habilitation 2001 wurde er 2002 Oberassistent am Institut für deutsche und niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin, seit 2006 ist er dort Lehrkraft für besondere Aufgaben und außerplanmäßiger Professor. Er übernahm Gastdozenturen und -professuren in Bern, Wien, Durham (North Carolina) und an der University of Chapel Hill, North Carolina. Ausgewählte Publikationen: Leben auf der Grenze. Klischee und Faszination des Zigeunerbildes in Literatur und Kunst (2012); Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle (2000); Vom Zauber des Schreckens. Studien zur Phantastik und zum Horror (1999); Der Leibhaftige. Motive und Bilder des Satanismus (1999); Delirien des Körpers. Phantastik und Pornographie im späten 18. Jahrhundert (1998); Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur (1994); Inseln (Hg. 2017); Kriegstaumel und Pazifismus. Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg (Mit-Hg. 2016).
S.a. https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we04/ndl/mitarbeiter_innen/prof/brittnacher/index.html