Lecture
Friday, Apr 25, 2008, 6:30 PM

Sieglinde Geisel

Gefühlte Räume. Wie man sich mit Städten vertraut macht

Wir haben unsere Fortbewegung weitgehend an Maschinen delegiert, doch Maschinen verändern ihre Benutzer. Das Verkehrsmittel bestimmt nicht nur das Raumgefühl, das wir für eine Stadt entwickeln, es manipuliert auch unser Zeit-empfinden. Autofahrer glauben, sie seien mit dem Auto schneller als mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, weil sie die Zeit im Stau, vor roten Ampeln und auf Parkplatzsuche nicht einberechnen. Auf Strecken bis zu sechs Kilometern ist das Fahrrad im Stadtverkehr unschlagbar, doch das ist kaum jemandem bewusst. Jede Transportmaschine zwingt ihrem Nutzer ein bestimmtes Know-how auf, das sich wiederum in den mentalen Bildern spiegelt, mit denen man sich eine Stadt aneignet. Urbanität ist ein Lebensgefühl, und dieses entsteht, während man sich durch die Stadt bewegt. Es gibt Autostädte und Fahrradstädte, Fußgängerstädte und Straßenbahnstädte – Städte unterscheiden sich durch das Verkehrsmittel, das ihnen gemäß ist. Daraus ergibt sich ihr Tempo, ihr Flair, ihre Identität.

Sieglinde Geisel wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten. Im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas und lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die Neue Zürcher Zeitung tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Seither schreibt sie von dort über kulturelle und soziale Themen. Ende April erscheint von ihr: Irrfahrer und Weltenbummler. Eine Mentalitätsgeschichte des Reisens.