Ivan Krastev
Enlightenment. Reflection on a Divorce
Anfang der 1990er Jahre prophezeite Hans Magnus Enzensberger, dass auf das Ende des globalen Kalten Krieges eine Reihe nicht abbrechender lokaler Bürgerkriege folgen werde, eine Art Bürgerkriegsepidemie. Er sah die Unruhen in Los Angeles und die Kriege in Jugoslawien, die tschetschenischen Kommandeure und die liberianischen Warlords als Ausdruck ein und derselben Entwicklung. In Enzensbergers Perspektive verbindet sie die autistische Natur der Täter und die Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. Die Gewalt habe sich von der Ideologie befreit. Gewalt ist kein Instrument mehr, um bestimmte politische Ziele zu erreichen, sie ist zum Ausdruck der eigenen Identität geworden. Die Verwüstung des Krankenhauses in Mogadischu ist für Enzensberger das beste Beispiel für diesen neuen molekularen Bürgerkrieg. Die bewaffneten Angreifer zerstörten alle Röntgengeräte und tötete alle Ärzte und Krankenschwestern, wohl wissend, dass dies das einzige Krankenhaus in der Region war und nun keinerlei medizinische Hilfe mehr zur Verfügung stand. Man sei versucht, dies als Reduktion ad insanitatem zu bezeichnen, so Enzensberger. Im kollektiven Amoklauf verschwinde das Konzept der Zukunft. Es zähle nur noch die Gegenwart. Konsequenzen gebe es nicht.
In diesen Zusammenhang werde ich Amérys Konzept der „Aufklärung als Philosophia Perennis” stellen: Für ihn ist Aufklärung letztlich die Kunst, keine Angst vor der Zukunft zu haben.
Ivan Krastev ist Leiter des Zentrums für liberale Strategien in Sofia sowie Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Er ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und schreibt u.a. regelmäßig für die New York Times. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen After Europe (2017), The Light That Failed. A Reckoning (with Stephen Holmes, 2019), Is It Tomorrow Yet? Paradoxes of the Pandemic (2020).