Janosch Schobin
Emanzipation und Isolation. Zur Genese der Einsamkeitsangst moderner Gesellschaften
(Emancipation and Isolation: On the Fear of Loneliness in Modern Societies and its Genesis)
Dass in modernen Gesellschaften immer mehr Menschen vereinsamen, ist eine beliebte Verfallsdiagnose. Sie wird oft mit dem Verlust traditionaler Bindungen begründet. Die panische Vorstellung von einer »Einsamkeitsepidemie« in westlichen Gesellschaften basiert jedoch auf wackeligen Prämissen. So ist etwa die vermeintlich »normale« kinderreiche Kernfamilie, die in ein dichtes, lokal verfügbares Verwandtschaftsnetzwerk eingebettet ist und deren Verlust heute die Vereinsamung treiben soll, vor allem der Effekt der historischen Anomalie der demographischen Explosion des 19. Jahrhunderts. Auf semantischer Ebene wiederum ist zu bemerken, dass sich die sprachliche Deutung der Einsamkeit als Mangelgefühl in Europa ebenfalls im 19. Jahrhundert durchsetzt. Sie wurde demnach gerade in der Zeit dominant, in der sich jene soziale Formation verbreitete, auf deren Schwinden die Zunahme der (negativen) Einsamkeit heute ursächlich zurückgeführt wird. Diese widersprüchliche Diagnose weist auf ein zentrales Missverständnis über die psychosozialen Ursachen von negativen Einsamkeitsempfindungen hin: Es sind zumeist weniger fehlende Bindungen, sondern vielmehr »negative« Beziehungsqualitäten, die Einsamkeitserfahrungen antreiben. Dieser psychologische Befund verändert den Blick auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Modernisierung und Einsamkeit: Im Rahmen des Emanzipationsprojekts steigern moderne Gesellschaften strukturell die Kontrolle der Einzelnen über die Fortführung, aber auch über die Gestaltung von Freundschaften, Partnerschaften und Familienbeziehungen. Dies erhöht den Anteil einsamkeitsresistenter, dafür aber jederzeit kündbarer Beziehungen am »sozialen Atom« der Menschen. Es kommt zu einer Dynamisierung der Nahwelt, deren widersprüchliches Ergebnis ist, dass negative Einsamkeitserfahrungen seltener werden, die Bedrohung durch soziale Isolation aber stetig zunimmt: Nicht die Einsamkeit selbst verbreitet sich daher in der »zweiten Moderne« wie eine Epidemie, sondern die Einsamkeitsangst.
Janosch Schobin unterrichtet im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften am Lehrstuhl für Makrosoziologie der Universität Kassel. Im Rahmen des BMBF-Projekts DeCarbFriends – Dekarbonisierung – Freundschaftsnetzwerke – Gamification leitet er dort die Nachwuchsgruppe Die Rolle digitaler Spielanwendungen zur Dekarbonisierung privater Konsumentscheidungen. Nach einem Masterstudium in Soziologie und Mathematik wurde er 2001 an der Universität Kassel mit einer Arbeit promoviert, die 2013 unter dem Titel Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel erschienen ist. Er war u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und freiberuflicher Softwareentwickler. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Soziologie der Freundschaft, der Sozialen Netzwerktheorie, der Sozialen Isolation, der Familiensoziologie, der Thanato-Soziologie sowie der Arbeits- und Spielsoziologie. Zu seinen aktuellen Publikationen zählen der Sammelband Freundschaft heute. Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie (Mit-Autor, 2016) und zahlreiche Aufsätze zur soziologischen Betrachtung von Einsamkeit und Freundschaften.
Homepage: https://www.uni-kassel.de/projekte/decarbfriends/projektpartner/projektteam/dr-janosch-schobin.html