Ausstellung
23.8.2024
Ort: Orangerie im Neuen Garten, Potsdam

Die Macht der Aufklärung. Walking with Kant

Saskia Boddeke and Peter Greenaway

 
Installation

Die Aufklärung, jene fortschrittliche Bewegung, die Wissenschaft, Kultur und Politik vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit hinein beeinflusst hat, ist inzwischen zum
Gegenstand der Verachtung geworden. Viele Kritiker:innen, linke wie rechte, machen die Aufklärung für einen Großteil des gegenwärtigen Elends verantwortlich. Waren
deren Vertreter naive Optimisten? Haben sie blind einer Vernunft und einer Technik gehuldigt, die Auschwitz und Hiroshima hervorgebracht hat? Waren sie Rassisten,
die für ihre europäischen Werte universelle Geltung beanspruchten, um sie dann den nicht-europäischen Völkern aufzuzwingen?

Fragen dieser Art stellen sich heute, wo immer man die Aufklärung erwähnt. Bestenfalls heißt es, die Aufklärung sei ambivalent: Auch wenn sie ein Zeitalter der
Vernunft gewesen sein mag, war sie doch auch eines der Sklaverei und des Kolonialismus. Diese Behauptung übersieht allerdings die Tatsache, dass die Denker der Aufklärung – wie fortschrittliche Intellektuelle zu jeder Zeit – nicht alle ihre Kämpfe gewonnen haben. Dennoch haben sie diese Kämpfe ungeachtet der Risiken der Zensur, des Exils und des Todes ausgefochten.

Anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant, des größten Philosophen der Aufklärung, veranstaltet das Einstein Forum ein vielfältiges Denkfest, das die inzwischen so omnipräsenten Klischees vermeidet und die Öffentlichkeit ermutigt, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Unser Anliegen ist kein historisches, denn die Fragen, die die Aufklärung gestellt hat, sind von größerer Relevanz denn je. Die Aufklärung aufzugeben, wie manche fordern, hieße, die Fähigkeiten vernünftigen Denkens aufzugeben. Es bedeutet auch, auf drei Prinzipien zu verzichten, die den Kern jeder progressiven Weltanschauung bilden: die Verpflichtung zum Universalismus gegen den Tribalismus, den Glauben an eine Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und den Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts selbst.

Warum überhaupt Kants Geburtstag feiern? Die Antwort finden wir in einer der wenigen autobiografischen Bemerkungen des Philosophen. Als Sohn eines Sattlermeisters war Kant selbst für das Leben eines Handwerkers bestimmt, wäre nicht ein Pastor der Meinung gewesen, der kluge Knabe verdiene eine höhere Bildung. Der junge Kant liebte seine Studien und verachtete das unwissende Volk, bis die Lektüre von Jean-Jacques Rousseau ihn aus der Bahn warf. Kant verwarf seine elitären Ansichten und erklärte, seine Philosophie werde die Menschenrechte erneuern, andernfalls sei sie nutzloser als das Werk eines gemeinen Arbeiters. Dieser Anspruch wird jene, die nur irgendeine beliebige Seite seiner Texte gelesen haben, erstaunen. Doch Heinrich Heine schrieb, Kant sei ein radikalerer Revolutionär als Robespierre gewesen. Er habe nicht nur die Religion von ihrem Thron absoluter Autorität gestoßen, ihn trieben auch jene Fragen an, die uns heute noch plagen: Sind Ideen wie Freiheit und Gerechtigkeit nur utopische Tagträume oder haben sie mehr Substanz? Ihre Realität unterscheidet sich von der Wirklichkeit materieller Objekte, denn jene Ideen verlangen etwas vollkommen anderes von uns – und einige Menschen weigern sich, die Ansprüche der Vernunft wahrzunehmen. Kann die Philosophie zeigen, dass moralisches Handeln, wenn auch nicht besonders weit verbreitet, so doch wenigstens möglich ist?


Nicolas-Henri Jeaurat de Betry:
Allegorie der Revolution (1794) © Alamy

Im Zentrum der Kant’schen Metaphysik steht die Unterscheidung zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie sein sollte. Sein Werk ist eine Antwort auf jene, die behaupten, im Angesicht der Lust würden wir schwach; wir könnten mit Brot und Spielen zufriedengestellt werden bzw. handgeschöpfter Schokolade und dem neusten iPhone. Träfe das zu, wäre ein wohlmeinender Despotismus die beste Regierungsform. Wenn wir aber in unseren besten Momenten nach Würde, Freiheit und Gerechtigkeit verlangen, dann hat Kants Werk politische Konsequenzen. Es überrascht nicht, dass die Französische Revolution für ihn die Hoffnungen auf moralischen Fortschritt bestätigte – im Gegensatz zu den Anhängern seines Vorgängers David Hume, der es für gefährlich hielt, von Tradition und Gewohnheit abzuweichen.

Das verhilft uns zu einer Antwort auf jene zeitgenössischen Kritiker, deren Kant-Lektüre sich auf Stellen konzentriert, die unser Verständnis von Rassismus und Sexismus empören. Einige seiner Bemerkungen sind heute verwerflich. Aber es wäre fatal zu vergessen, dass Kants Werk uns die Waffen gab, mit denen wir Rassismus und Sexismus bekämpfen können. Denn er schuf die metaphysische Basis für die Forderung nach Menschenrechten. Kant besteht darauf: Wenn wir moralisch denken, müssen wir von den kulturellen Unterschieden, die uns trennen, absehen und die menschliche Würde in jedem einzelnen anerkennen. Das erfordert den Gebrauch der Vernunft, denn Kant sah sie als Werkzeug derBefreiung.

Kant verlangte auch, dass sich politische und soziale Verhältnisse nicht nach der Macht, sondern nach der Gerechtigkeit richten, auch wenn beide in der Praxis oft miteinander vermengt werden. Inzwischen verstehen wir besser, wie Rassismus und Sexismus echten Universalismus verhindern können. Sollten wir Kants Engagement für den Universalismus verwerfen, nur weil er selbst ihn nicht vollständig verwirklichen konnte? Oder sollten wir lieber die Tatsache feiern, dass wir moralische Fortschritte gemacht haben, eine Idee, die Kant vollen Herzens begrüßen würde?

Kant im Regen
Saskia Boddeke: Walking with Kant, Film Still (2024) © Saskia Boddeke

 

DIE MACHT DER AUFKLÄRUNG
– WALKING WITH KANT

Bekanntlich hat Kant fast jeden Tag einen zweistündigen Spaziergang durch seine Geburtsstadt Königsberg gemacht. Er war dabei so pünktlich, dass viele seiner Mitbürger:innen ihre Uhren nach ihm stellten. Nur zweimal kam es zu einer Abweichung von dieser Routine: das erste Mal als er in die Lektüre von Rousseaus Émile vertieft war, ein Buch, dessen Wirkung er später mit Newtons Revolution in der Physik verglich; das zweite Mal als er die Nachricht von der Französischen Revolution erhielt. Die Künstler:innen Saskia Boddeke und Peter Greenaway laden uns in ihrer Installation ein, Kant auf seinem Spaziergang zu begleiten und die Macht der Aufklärung zu entdecken. Die fünf aufwändig gestalteten Räume erlauben eine Reise durch die Hauptaspekte des aufklärerischen Denkens.

Der erste Raum ist den vier wichtigsten Ideen der Aufklärung gewidmet: An erster Stelle steht die Idee, jeder Mensch verfüge gleichermaßen über das Vermögen der Vernunft. Anstatt unsere Handlungen der Autorität von Kirche und Staat zu unterstellen, betont die Aufklärung die Wichtigkeit der Vernunft: Mit ihr können wir unser Schicksal weitgehend bestimmen. Vernunft und Freiheit sind eng miteinander verbunden: Das Wissen soll uns vom Aberglauben und von Vorurteilen befreien, von Armut und Furcht.

Goya: Sueno de la razonLouverture
Francisco de Goya: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer (1799) © Public Domain
Anon.: Toussaint Louverture zu Pferd (1802) © Metropolitan Museum of Art, Public Domain

Die Denker der Aufklärung waren einer Ethik der Gleichheit verpflichtet, auch wenn sie diese Verpflichtung nicht immer erfüllt haben. Kants Moraltheorie verlangt, dass wir jede Person als einen Zweck an sich, niemals nur als Mittel behandeln. Diese Forderung zieht auch die Verdammung des Rassismus und des Kolonialismus nach sich. Und obwohl Kant den Sexismus niemals verurteilte, so liegt dies doch in der Konsequenz seiner Moraltheorie. Die meisten Aufklärer sprachen sich explizit gegen die zeitgenössische Sklaverei und Kolonialismus aus.

Die Aufklärer bedienten sich empirischer Untersuchungen, um alle Gegenstände, von den unscheinbarsten Pflanzen und Tieren bis zu den Bewegungen am Himmel zu erforschen. Die Wissenschaft diente viertens dazu, eine vorgebliche Ordnung der Natur und die damit verbundene Unterdrückung in der Gesellschaft in Frage zu stellen. Waren Armut und Krankheit das Resultat göttlicher Vorsehung, wie die Kirche und weltliche Obrigkeiten behaupteten? Oder konnten z.B. die Fortschritte der Medizin und der Landwirtschaft zeigen, dass Menschen in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu verbessern? Die Wissenschaft entmystifizierte jene Kräfte, die zunächst übermächtig schienen. Dem Zorn Gottes zugeschriebene Blitze waren demnach eine Form der Elektrizität, die gezähmt und nutzbar gemacht werden konnte. Die Entdeckung eines Impfstoffs gegen Pocken und der Fortschritt der Hygiene verhinderten Millionen von Toten.

Franklins Genie
Jean-Honoré Fragonard: Dem Genie von Franklin (ca. 1778) © National Gallery of Art, Public Domain

Die Aufklärung war ein Zeitalter der Erkundungen; ihre Denker waren fasziniert vom Wissen anderer Kulturen. Das führte zu umfangreichen Sammlungen der Flora und Fauna weit entfernter Gebiete. Die Kenntnis nichteuropäischer Gebräuche, sozialer wie politischer, wurden oft benutzt, um europäische Gesellschaften zu kritisieren. Die meisten Philosophen der Aufklärung verurteilten den Kolonialismus, der oft im Kielwasser solcher Reisen entstand. Nach Kant brachten die kolonialen Eroberer „die Unterdrückung der Eingeborenen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten derselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnot, Aufruhr, Treulosigkeit und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag. China und Japan, die den Versuch mit solchen Gästen gemacht hatten, haben ihnen daher weislich nicht den Eingang erlaubt.“

KA
Saskia Boddeke: Walking with Kant, Film Still (2024) © Saskia Boddeke

WALKING WITH KANT
In seinem Essay „Was ist Aufklärung?“ behauptet Kant, Aufklärung sei weniger eine Sache des Wissens als eine des Muts. „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, mahnt er. Was das heißt, wird in der Videoinstallation von Saskia Boddeke und Peter Greenaway erkundet. Trägheit ist einer der Gründe, warum wir uns der Verantwortung für unsere Gedanken und Handlungen verweigern. Aber Kant ist sich auch bewusst, wie staatliche Autoritäten daran arbeiten, dass wir uns vor der Freiheit fürchten; sind doch fügsame Bürger einfacher zu kontrollieren.

H IS FOR HOPE
Auch wenn religiöse Dogmen in vielen Kulturen keine Rolle mehr spielen, mögen doch die vier apokalyptischen Reiter uns selbst noch in atheistischen Träumen verfolgen. Obwohl sie uns die Werkzeuge der Befreiung an die Hand gegeben hat, hat die Aufklärung auch neue Gefahren erzeugt. Können wir ihre Mittel nutzen, um auch diesen Bedrohungen der Menschheit zu begegnen? Was können wir ohne die Gewissheit des Fortschritts hoffen? Für Kant ist die Hoffnung kein Gefühl, sondern eine moralische Verpflichtung. Ohne sie sind wir nicht imstande Krieg und Ungerechtigkeit zu besiegen.

Kants Tafeö
Emil Dörstling: Kant und seine Tischgenossen (1892/93) © Alamy

Kant war ein großzügiger und lebhafter Gastgeber, der zur Mittagszeit meist einige Gäste bewirtete, bevor er zu seinem Nachmittagsspaziergang aufbrach. Der letzte
Raum zeigt die Tafel, wie sie nach einem reichen Mahl und geistreicher Konversation hinterlassen wurde. Während Kant bei Tisch grundsätzlich nicht über Philosophie sprach, drehte sich die Diskussion oft um die drei Fragen, die seiner Meinung nach allen Bestrebungen der Vernunft zu Grunde liegen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Jede Antwort darauf muss dem Anspruch genügen, die Welt zu sehen, wie sie ist, ohne zu vergessen, wie die Welt sein sollte.

Broschüre zur Ausstellung


Ort: Orangerie im Neuen Garten Potsdam
Wegbeschreibung

Freitag, 23. August – Mittwoch, 25. September 2024, 11 – 17:30 Uhr
10. – 15., 19. u. 21. September 11 – 16:00 Uhr
Am 18. u. 22. September geschlossen.

Eintritt: 3 Euro
ermäßigt: 2 Euro
(Ermäßigung für Kinder bis 16, Schüler, Studierende, Auszubildende, Erwerbslose, Bürgergeldempfänger, Schwerbehinderte, Rentner)

zur Ticketbestellung / Buy tickets here

Vernissage: 23. August 2024, 18:00 Uhr
Finissage: 25. September 2024, 17:00 Uhr
Press preview: August 21, 2024, 11:00 a.m.

Credits:
Artists: Saskia Boddeke, Peter Greenaway

Einstein Forum:
Director: Susan Neiman
Curator: Cilly Kugelmann

Assistant to the artists: Pip Greenaway
Production manager: Marita Ruyter, Nadine Söll
Music composer: Luca D’Alberto
Editor: Elmer Leupen
Video design: Peter Wilms
Sound design: Danny Weijermans
Featuring artworks and prop design by: Manuel Schubbe
Props and technical support: Jesus Trujillo
Calligraphy: Brody Neuenschwander

Management and coordination: Goor Zankl, Franziska Bomski, Dominic Bonfiglio
Accountant: Antonia Angold
Webmaster: Andreas Schulz
Consultant: Benjamin Zachariah
Exhibition planning and realization: KatzKaiser, Tobias Katz, Matthias Förster
Audio visual equipment: Eidotech
Wall design: Liquid Paint, Patrick Gutschmidt
Light design: Victor Kegli, 50 Lux
Electrical installation: Pinz GmbH
Exhibition architecture: Art Department Studio Babelsberg, MaLeWo GbR
Facsimiles: Klünder Buchbinderei, Wiebke Dane
Wall mural: Ulrich Welter, Manufaktur für Wandunikate
Kant letters: Brody Neuenschwander, Vera Roth
Graphic design: Dots & Ducks
Public relations: Artefakt Kulturkonzepte

Film crew for Walking with Kant:
Director: Saskia Boddeke
Lyrics: Peter Greenaway, Pip Greenaway
Assistant to director: Pip Greenaway
Producer: Marita Ruyter

Music composer: Luca D’Alberto
Editor: Elmer Leupen
Calligraphy: Brody Neuenschwander

Director of photography: Ruzbeh Babol
Costume design: Marrit van der Burght
Wigs: Bobby Renooij
Actors: Hendrik Aerts, Pip Greenaway
Dancer: Dunja Jocic

Gaffer: Uwe Kuipers
First AD: Nura Babol
Camera operator:Indy Hamid
Sound: Roberto van Eijden
Props and set: Jesus Trujillo
Set designer: Max Degen
Camera assistant: Ivo Valkenburgh
Best boy: Michiel Hageman
Best boy: Rikke van der Heul
Light assistant: Frits Schreefel
Visagie and costumes on set: Anna de Vriend
Autocue: Eva Mulder
Runner: Lukas Thole
Catering: Lunchidee