Entfällt Urania Milevski
Der eigenen Kindheit auf der Spur
Frank Witzels Inniger Schiffbruch
„Man geht zu Grunde, indem man versinkt. Man geht der Sache auf den Grund, indem man sich in sie versenkt.“ Dieses Zitat Hans Blumenbergs (Die Sorge geht über den Fluß, 1987) könnte Frank Witzels Roman Inniger Schiffbruch als Motto einleiten, steht jedoch stattdessen am Ende des Textes und beschert den Leser:innen damit ebenso retrospektiv Erkenntnis wie dem Protagonisten und Erzähler des Romans. Diese Umkehr ist Programm im autobiografisch gefärbten Versuch, die eigene Kindheit erinnernd zu entschlüsseln: Der Ich-Erzähler will nach dem Tod der Eltern deren Leben, und damit auch sein eigenes, schreibend rekonstruieren. Doch scheitern die Versuche, kausale Zusammenhänge herzustellen – und müssen scheitern, wenn sie produktiv sein sollen. Im Vortrag wird diese pendelnde Bewegung aus emotionaler Annäherung und analytischem Distanzieren nachgezeichnet und der Versuch unternommen, das dichte Verweisnetz aus Psychoanalyse, Philosophie und Literatur zu entwirren.
Urania Milevski ist Senior Lecturer für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medien an der Universität Bremen. Sie hat Germanistik, Politikwissenschaften und Soziologie an der TU Darmstadt studiert und wurde 2014 im DFG-Graduiertenkolleg „Dynamiken von Raum und Geschlecht“ (Universität Kassel und Georg-August-Universität Göttingen) zur Darstellung von sexualisierter Gewalt in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur promoviert. Ihre Publikations- und Forschungsschwerpunkte sind neben Gegenwartsliteratur und Literatur um 1900 auch Populäre Kultur(en), Literaturwissenschaftliche Praxeologie sowie Literatur und Erinnerung. Zuletzt erschien, von ihr und Lena Wetenkamp herausgegeben, das Themenheft Literature and Memory des Journal of Literary Theory (2022).