Vortrag
Freitag, 29.4.2011, 18h
Filmhaus am Potsdamer Platz, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin

Gesine Palmer

Aufbrechen, Einbrechen und Umgehen. Die stille Katastrophe Weißer Schmerz

„Dies ist also kein Stück Literatur, sondern ein Dokument. Kein Buch, sondern ein Zeugnis“, schreibt Ingmar Bergman im Vorwort zu Der weiße Schmerz, dem Buch, in dem die Tagebücher von ihm, seiner Frau Ingrid von Rosen und ihrer gemeinsamen Tochter Maria zusammengestellt sind und die Ingrids Krebstod begleiten. Bergman war psychoanalytisch zu gebildet, um nicht zu wissen, dass diese Ansage manchen auf eine andere Fährte setzen würde, zu sehr Pastorensohn, um im Zeugnis nicht die Geschichte des Martyriums mit zu denken, zu sehr Regisseur, zu sehr Ingmar Bergman, um nicht zu wissen, dass die blanke Realität nicht zu haben, und wenn sie einbricht, nicht zu ertragen ist. Eben deswegen glaubt man ihm die reine Absicht. Und hat gerade damit ein Problem. „Wahrscheinlich tun wir alle so, als würde sie gesund werden, um einander und uns selbst zu schützen. Es ist das, was Ingmar nicht tut oder tun kann, und Mama sieht es ihm an“, schreibt Maria von Rosen. Die Katastrophe besteht dann trotzdem im Ausputz, der als medizinisch-psychologischer Diskurs alle – bis auf die Sterbende selbst – immer wieder erfasst. Es ist unmöglich, den in ihm gelegten Spuren nicht nachzugehen. Dabei aber erledigt er sich Spur für Spur von allein. Übrig bleibt ein etwas anderes Zeugnis, als man am Anfang dachte.

Gesine Palmer ist Philosophin und Religionswissenschaftlerin und arbeitet als freie Autorin und Trauerrednerin. Sie wurde 1996 an der Freien Universität Berlin in Historischer Theologie promoviert und war 1995–2001 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie, Fachgebiet Religionsgeschichte der Freien Universität Berlin. Nach einem Forschungsaufenthalt am Leo Baeck Institute New York (2001/02) war sie von 2003–06 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am interdisziplinären Forschungszentrum FEST in Heidelberg. 2010 gründete sie das „Büro für besondere Texte“. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ein Freispruch für Paulus. John Tolands Theorie des Judenchristentums (1996); Apokalyptische Müdigkeit und Die Hure im Buch Jecheskel (2002); Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur? (mit Richard Faber, 2003); Fragen nach dem einen Gott. Die Monotheismusdebatte im Kontext (2007).