Cornelius Borck
Anonymisierung – Ausdifferenzierung – Auflösung. Formen des Erzählens in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte
Medizin- und Wissenschaftsgeschichte zielen auf einen Gegenstandsbereich, der intrinsisch auf Fortschritt ausgerichtet ist. Das schien lange auch für ihre Formen des Erzählens vorausgesetzt zu sein; daher dominierten Geschichten großer Erfindungen und Entdeckungen bzw. der dahinterstehenden Akteure (zumeist weiße Männer). Medizin, Wissenschaft und Technik sind aber nicht nur inhärent auf Neues ausgerichtet, sondern systematisch strukturiert, »von innen normiert« (Georges Canguilhem). Einzelne Entwicklungen und Entdeckungen organisieren sich zu Theorien, stabilisieren sich in Praktiken, formen Schulen, Denkrichtungen und Institutionen. Daraus resultiert zum einen eine Nähe zur Begriffs- bzw. Ideengeschichte, zum anderen lassen sich diese Strukturdynamiken ihrerseits historisch hinterfragen und mit anderen Entwicklungen ins Verhältnis setzen.
Im 20. Jahrhundert haben zwei metahistorische Konzepte besonders nachhaltig die Wissenschaftshistoriographie verändert: Thomas Kuhns Paradigmenwechsel und Michel Foucaults Diskursanalyse epistemischer Brüche. Beide hinterfragten die Vorstellung eines geradlinigen Fortschritts. Während »Paradigmenwechsel« zwar als Begriff rasch populär wurde, erwies sich Kuhns Brückenschlag zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie jedoch als zu großformatig und abstrakt, um konkrete Aushandlungsprozesse historisch angemessen zu erfassen. In der Nachfolge rückte deswegen der zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Ludwik Fleck mit seiner Lehre vom Denkstil zum kanonischen Autor auf. Mit Fleck verlagerte sich der Blick auf Kollektive, auf Praktiken und auf Materialitäten, was nicht zuletzt zu einer Engführung von Medizin-, Wissenschafts- und Technikgeschichte führte. Ähnliches ließe sich über Foucault sagen; seine großen epistemischen Zäsuren wurden skeptisch diskutiert, dennoch verbreitete sich die Diskursanalyse vielfältig, zumal Foucault mit Stichworten wie »Biopolitik« und »Gouvernementalität« wichtige Impulse für inhaltliche Ausarbeitungen lieferte.
Im Hinblick auf Erzählstrukturen lassen sich diese Ansätze als Anonymisierung von Geschichtsschreibung charakterisieren, die an die Stelle von großen Ideen und genialen Gehirnen eine Vielzahl wirkender Faktoren setzten. Damit ging eine Verlagerung von großen Erzählungen auf interdisziplinäre Mikrogeschichte(n) und eine bemerkenswerte Ausdifferenzierung der methodischen Zugänge einher: die Geschichte epistemischer Dinge, wissenschaftlicher Objekte, einzelner Apparate oder wissenschaftlicher Praktiken, von Aufschreibesystemen über Fallgeschichten zur Zirkulation von Wissen. Auf die Anonymisierung der Geschichte antwortete schon früh eine »history from below«, die verdrängten Stimmen (den Betroffenen, den »helfenden Händen« in Wissenschaft und Technik, den Patient:innen, den Pflegekräften etc.) neuen Raum gab. Große Synthesen wurden hingegen nur noch vereinzelt vorgelegt (z.B. John Pickstone: Ways of Knowing, 2000; Roy Porter: Medicine, a History of Healing, 1997); stattdessen erschienen immer mehr Kompendien und Handbücher in Teamarbeit. Stehen wir vor einer Auflösung des Erzählens in der Wissenschaftsgeschichte aus der Arbeitsteilung immer kleinerer Spezialgebiete? Und wie reagiert das Feld dann auf den Trend einer naturwissenschaftlich grundierten »Deep History« des Anthropozäns?
Cornelius Borck, geb. 1965, ist seit 2007 Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Naturwissenschaften und Direktor des Instituts für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, Universität zu Lübeck. Ausgewählte Publikationen: Schwache Nerven, starke Texte. Thomas Mann, die bürgerliche Gesellschaft und der Neurasthenie-Diskurs (Mit-Hg. 2021); Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne: Räume · Routinen · Störungen (Mit-Hg. 2018); Medizinphilosophie zur Einführung (2016); Das Psychiatrische Aufschreibesystem (Mit-Hg. 2015); Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie (2005; engl. 2018).