Mischa Gabowitsch
Über die Rechtfertigung von Gewalt gegen Mittiere. Zu einer Soziologie der Tierethik
Der Vortrag nähert sich dem Thema Tierethik aus der Perspektive der pragmatischen Soziologie. Diese unterscheidet auf Grundlage empirischer Beobachtungen zwischen verschiedenen Regimen des Engagiertseins in der Welt: Planendes Handeln, Vertrautheit, Erkundung, Spiritualität und Rechtfertigung sind unterschiedliche Formen der Koordination mit sich selbst und anderen. Aus ihrer Kombination erwachsen politische Grammatiken mit jeweils unterschiedlichen Erwartungshaltungen an andere. Die heute dominante Grammatik der individuellen Interessen erklärt das autonom planende Individuum zum Standard. Tierethische Grundhaltungen, die etwa aus spirituellen Erfahrungen oder solchen der Nähe erwachsen, können dann nur noch als freie Entscheidungen des Einzelnen verstanden werden, die gleichberechtigt neben anderen stehen wie vegane Speisen neben Fleischgerichten in einem Restaurantmenü.
Die Beschäftigung mit religiösen Perspektiven vermag diese Formatierung zu relativieren. Zum einen lehren diese, das eigene Handeln nach überindividuellen Maßstäben zu rechtfertigen und es auf eine ethische Gemeinschaft zu beziehen – eine Gemeinschaft, zu der neben Mitmenschen auch andere Mittiere gehören können. Zum anderen wissen Gläubige, die in säkularisierten liberalen Gesellschaften leben, um den Preis der Präsentation einer tiefen Überzeugung als individuelle Entscheidung.
Mischa Gabowitsch, Historiker und Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum. Neben seiner Forschung zu Erinnerung und Gedenken sowie Protest und sozialen Bewegungen interessiert er sich insbesondere für Wechselwirkungen und Grenzziehungen zwischen Dingen, Menschen und anderen Tieren. Jüngere Buchpublikationen: Protest in Putin’s Russia (2016); Replicating Atonement: Foreign Models in the Commemoration of Atrocities (Hrsg., 2017); Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa (Mit-Hrsg., 2017); Pamjatnik i prazdnik: etnografija Dnja Pobedy (Hrsg., 2020).