Mario Keßler
Postkolonialismus und Internationalismus
Der Beitrag behandelt ein Kapitel aus der Vorgeschichte der Postkolonialismus-Debatten: den Anteil von DDR-Forschern an der Aufdeckung des Zusammenhanges von nationaler Identität und sozialer Befreiung im antikolonialen Kampf.
Der Völkerkundler Julius Lips (1895–1950) machte die Sichtweise des Kolonisierten in seinem 1937 erschienenen Werk The Savage Hits Back (spätere deutschsprachige Ausgaben unter dem Titel: Der Weiße im Spiegel der Farbigen) zum Ausgangspunkt seiner Studien. Lips und seine Frau Eva (1906–1988) untersuchten in diesem Buch und weiteren Arbeiten die Formen künstlerischer Auseinandersetzung nichtweißer Völker mit dem »Weißen« als Ausdruck kultureller Eman-zipation.
Das Ehepaar Lips wirkte nach 1945 an der Universität Leipzig, dort auch in Zusammenarbeit mit Walter Markov (1909–1993), dem Historiker der europäischen Revolutionen. Der Beitrag sucht zu zeigen, wie daraus Impulse der Forschung und ihrer öffentlichen Vermittlung entstanden, die die Forschung zum Kolonialismus und Antikolonialismus in der DDR prägten. An dieser Forschung waren zunächst überwiegend Männer und Frauen beteiligt, die vor 1945 politisch oder rassistisch verfolgt und zum großen Teil ins Exil gezwungen worden waren. Auch die Grenzen dieser Debatten sollen am Beispiel des Umgangs mit Willi Münzenberg (1889–1940) gezeigt werden. Dieser war die wichtigste Persönlichkeit der internationalen Arbeiterbewegung in Bezug auf die Unterstützung der Kolonialvölker, fiel aber nach seinem Bruch mit dem Stalinismus 1938 in der DDR teilweise dem erzwungenen Schweigen anheim, das in den 1980er Jahren jedoch durchbrochen wurde.
Mario Keßler, Prof. Dr., Studium in Jena und Leipzig, Promotion 1982 in Leipzig, Habilitation 1990 an der Akademie der Wissenschaften der DDR. 1992–2021 am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (bzw. dessen Vorgänger-Institution) tätig, jetzt dort Senior-Fellow. Zahlreiche Gastprofessuren, vor allem in den USA, darunter zwischen 2005 und 2019 an der Yeshiva University, New York.
Publikationen: 27 Bücher in deutscher und englischer Sprache, zuletzt: A Political Biography of Arkadij Maslow: Dissident Against His Will (2020); Abgründe und Aufbrüche (2020). Daneben zahlreiche Bücher als Herausgeber und Mitherausgeber, zuletzt: Transatlantic Radicalism: Socialist and Anarchist Exchanges in the 19th and 20th Centuries, mit Frank Jacob (2021). Weiterhin Aufsätze und Buchbeiträge zum Antisemitismus, zur europäischen Arbeiterbewegung (vor allem ihrem kommunistischen Zweig), zur Exilforschung, zur Historiographie-Geschichte sowie zu den Beziehungen zwischen Politik und Kultur in Deutschland und den USA.