Thomas Hauschild
Kompensation, Kritik, Evolution. Die Ethnologie nach der Postmoderne
Die verstärkte Globalisierung der Kulturen der Welt hat paradoxe Folgen – das lehren uns die Anschläge des 11. September. Gerade im Zeitalter rasanten Fortschritts müssen wir die Nischen und Rand-Provinzen des Weltsystems im Auge behalten, auch jene, die wir schon fast vergessen hatten. Das “rückständige” und provinzielle Leben ins Spiel zu bringen, ist im akademischen Bereich herkömmlich die Aufgabe der Ethnologie. In der Modernisierungsfalle wird sie zu einem unentbehrlichen Wissensspeicher, auf den keine Industriegesellschaft verzichten kann. Wenn ausreichend langfristige Feldforschungen durchgeführt werden, können Ethnologen und Ethnologinnen über die Tauschbeziehungen, Weltanschauungen und Positionswechsel an den Graswurzeln jeder Gesellschaftsform vertiefte Auskunft geben. In einer stark nach innen gewendeten, sich über das “Außen” nur unzureichend informierenden Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland gibt es in dieser Hinsicht noch viel zu tun. Dafür ist hier der romantisch-idealisierende und stereotypisierende Umgang mit dem “Fremden” weiterhin stark entwickelt. An diesem romantischen Interesse anknüpfend, dann aber über die Funktion im Bereich Kompensation/Kritik hinausgehend, muss sich das Fach auch in Deutschland heute deutlich im gesellschaftlichen Diskurs verorten. Das heißt, es muss zur Diskussion vitaler anthropologischer Probleme beitragen. Das betrifft vor allem die Frage nach dem Verhältnis unseres Wissens über die Evolution der Menschheit zu unserem Wissen über die Relativität aller Kulturen. Probleme der Bildung, des Rassismus sowie der Geostrategie sind darin gleichermaßen verankert.