Jörg Baberowski
„Er gab uns das Lachen zurück“. Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung
Als Stalin im Jahr 1953 starb, gab es für die Gefolgsleute und die Untertanen nichts als die Diktatur. Es hatte in Russland und in der Sowjetunion niemals eine Demokratie gegeben, und was nach dem Tod des Despoten geschah, könnte man als Überwindung des Schreckens in der Diktatur bezeichnen. Chruschtschow und die Reformer beendeten die Gewalt, sie sprachen über die Verbrechen der Vergangenheit und rehabilitierten Hunderttausende, aber sie erhielten die Diktatur, die diese Exzesse einst ins Werk gesetzt hatte. In der historischen Forschung ist die Auffassung vertreten worden, dass die Reformen Chruschtschows nicht weit genug gegangen, dass alle Chancen zur Demokratisierung des Landes vertan worden seien. In Wahrheit gab es nichts als die Diktatur, und Chruschtschow hatte kein anderes Instrument als die Partei, um Öffentlichkeit herzustellen und Reformen voranzutreiben. Die Entstalinisierung war ein Werk der Diktatur, die vollbrachte, wozu niemand sonst imstande gewesen wäre. Millionen waren ums Leben gekom-men, selbst die Täter waren zu Opfern geworden, eine ganze Gesellschaft traumatisiert. Nur eine Ordnung, die diesen Bedingungen gerecht wurde, war imstande, die Sowjetunion zu befrieden. Man könnte auch sagen, dass sich die späte sowjetische Diktatur in eine Zustimmungsherrschaft verwandelte, in der die meisten Menschen besser leben konnten als im Stalinismus. Konsum, der Verzicht auf Gewalt und der Konsens in wichtigen Fragen des Alltagslebens verschafften der Diktatur eine Legitimation, die sie niemals zuvor besessen hatte. Sie befriedete die Gesellschaft, und sie musste Loyalität nicht mehr länger erzwingen.
Jörg Baberowski forscht und lehrt zur Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein jüngstes Buch: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt (München 2012) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Sachbuch, ausgezeichnet.