Juliet Floyd
On Being Surprised
Das Überraschende (vgl. BGM Teil I, Anhang II) ist für Wittgenstein von großer Bedeutung vor allem im Zusammenhang seiner Kritik an der Vorstellung, dass die Mathematik stets von Regeln beherrscht wird – diese Vorstellung wird von Stanley Cavell und anderen als das Zentrum der Wittgenstein’schen Sprachkonzeption insgesamt betrachtet. Diese Kritik kann zugleich als eine Allegorie für die Philosophie selbst betrachtet werden. Wie in der Mathematik besteht auch in der Philosophie ein Unterschied zwi-schen Suchen und dem Finden, sobald man eine klare Vorstellung von dem hat, was am Ende als eine befriedigende Antwort gelten darf (z.B. die Verwendung eines Algorithmus als eine leicht anzuwen-dende Berechnungsmethode oder als Standardbeweismethode), und dem Suchen und Finden unter der Voraussetzung, keine klare Vorstellung von einer befriedigenden Antwort zu haben. Für Wittgenstein ist diejenige Philosophie am interessantesten, die wie die Mathematik zu äußerst überraschenden Ergebnissen führt, also Antworten, die uns betreffen und die uns beschäftigen, wie beispielsweise ein unerwarteter Aspekt eines Gesichts oder einer Gestalt. Eine Philosophie, die nicht zu solchen über-raschenden Ergebnissen führt, interessiert Wittgenstein nicht. Sie erscheint ihm als eine bloße Anwen-dung bereits bestehender Regeln; sie besitzt keine Kunstfertigkeit, keine Schönheit – mit einem Wort: kein Potenzial für Überraschungen.
Juliet Floyd lehrt Philosophie an der Boston University. Sie promovierte mit einer Dissertation zum Thema The Rule of the Mathematical: Wittgenstein’s Later Discussions. Sie veröffentlichte zahlreiche Artikel vor allem zu Logik und Mathematik bei Frege und Wittgenstein. Sie ist Herausgeberin (zus. mit S. Shieh) von Future Pasts: Perspectives of the Analytic Tradition in Twentieth Century Philosophy (2001).