Vortrag
Montag, 1.6.2015, 19h

David F. Lancy

Professor emer. of Anthropology, Utah State University, Logan

The Anthropology of Childhood. Children as a Reserve Labor Force

Gesprächsleitung: Prof. Dr. Susan Neiman, Potsdam

Der menschliche Lebenszyklus zeichnet sich durch eine einzigartig ausgedehnte Kindheit und Jugend aus. Das wird häufig damit erklärt, dass Heranwachsende viel Zeit benötigen, um sich in die Erwachsenenkultur einzufinden, vor allem um die Fähigkeit der Selbstversorgung und Lebenssicherung zu erwerben. Zahlreiche Studien belegen jedoch, dass Kinder diese Fähigkeiten ausprägen, lange bevor sie ihre Unabhängigkeit und damit den Status eines Erwachsenen erlangen. Es scheint, als legten sie im Spiel und durch ihr Eingebundensein in die häuslichen Abläufe bereits wichtige Reservekapazitäten an – Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie in der Regel auf Jahre hinaus nicht umfassend einsetzen.
An zahlreichen historischen und anthropologischen Beispielen zeigt David F. Lancy aber, dass diese Reservekapazitäten der Kinder individuell wie auch kollektiv sehr schnell aktiviert und für den Arbeitsmarkt mobilisiert werden können, etwa um nach dem Ausfall älterer Familienmitglieder knappe Ressourcen aufzubessern. Zudem können Krisen – Kriege, Epidemien, Hungersnöte oder auch wirtschaftliche Umbrüche – gesellschaftliche Zwänge erzeugen, die zu einem weitgehenden oder gar vollständigen Einbezug der Kinder in den Arbeitsmarkt führen – allerdings nur auf Kosten von Entwicklungschancen, die eine verlängerte Jugend üblicherweise möglich macht. In der Tat scheint der Mensch also seinen Lebenszyklus beschleunigen und die Phase der Abhängigkeit signifikant verkürzen zu können.

David F. Lancy beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit anthropologischer Kindheitsforschung, unter anderem in Liberia, Uganda, Madagaskar, Papua-Neuguinea, Trinidad, Schweden und den USA. Jüngste Buchpublikation: The Anthropology of Childhood: Cherubs, Chattel, Changelings (Second Edition, 2015).