Anastasia Piliavsky
“Decolonization” as Ukraine’s Suicidal Culture War
[‚Dekolonialisierung‘ als selbstmörderischer Kulturkampf der Ukraine]
Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs hat sich in der ukrainischen Öffentlichkeit und Politik ein Diskurs der „Dekolonialisierung“ etabliert. Getragen von einer gesellschaftlichen Minderheit und motiviert von den traumatischen Erfahrungen des Überfalls erklärt dieses aggressive Projekt der russischsprachigen Kultur in der Ukraine den Krieg – von der Musik über die Literatur bis hin zum Gebrauch der russischen Sprache in den Schulen. Seine Befürworter, eine unverhältnismäßig lautstarke Minderheit gewaltbereiter rechter und kultureller Aktivisten, betrachten die russische Sprache als ein Vehikel für den mörderischen Kolonialismus Russlands. Um ihn zu stoppen, müsse man einen Krieg gegen die russophone Kultur führen. Problematisch ist daran, dass die meisten Mitglieder der ukrainischen Streitkräfte und die meisten Opfer des Krieges, deren Städte und Dörfer niedergebrannt wurden, weil sie sich Russland nicht unterwerfen wollten, russischsprachige Ukrainer sind. Ich werde über die Anfänge dieses dekolonialen Kulturkriegs in der Geschichte der unabhängigen Ukraine sprechen, über seine Beziehung zu Putins postkolonialer Theorie und dem hybriden Krieg sowie über seine Auswirkungen auf die Aussichten auf Frieden in der Ukraine – und in Europa.
Anastasia Piliavsky ist Sozialanthropologin und Publizistin und lehrt Anthropologie und Politik am King’s College London. Sie ist Spezialistin für indische Politik und hat in Oxford promoviert, wo sie als Rhodes-Stipendiatin Sozialanthropologie studierte. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Patronage as Politics in South Asia (Cambridge 2014) und Nobody’s People (Stanford 2020), und sie ist Herausgeberin einer regelmäßigen Kolumne in der Times of India. Sie schreibt regelmäßig für indische, britische und ukrainische Medien über Indien und die Ukraine. Piliavsky ist derzeit Principal Investigator eines vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts über die politischen Lexika der indischen Volkssprachen. Seit Februar 2022 setzt sie sich auch aktiv für die Flüchtlinge und die Streitkräfte der Ukraine ein. In jüngster Zeit hat sie sich zu einer lautstarken Befürworterin der politischen Nationalität und einer Gegnerin der Kulturkriege in der Ukraine entwickelt. Derzeit schreibt sie an einem Buch mit dem Titel Endarkenment: How the American Left Lost Its Way, über den Aufstieg der Kulturkriege und den Niedergang der politischen Linken in den Vereinigten Staaten. Gebürtig in Odessa, hat sie in Großbritannien, Indien und den USA gelebt, heute pendelt sie mit ihrer Tochter Clara zwischen Cambridge und Odessa, Ukraine.